Wer durch eine belebte Wohnanlage geht, in der fast jedes Fenster erleuchtet ist, spürt augenblicklich ein Gefühl von Stabilität: Menschen leben dort, Mieten scheinen zu fließen, die Immobilie wirkt solide. Diese Wahrnehmung ist verständlich – und trügerisch.
Denn sie beschreibt nur, was sichtbar ist: die Physical Occupancy, also die physische Belegung. Für Investoren entscheidend ist jedoch etwas anderes: die Economic Occupancy – die wirtschaftliche Realität hinter den Fenstern. Sie zeigt, wie viel des möglichen Ertrags tatsächlich realisiert wird, wie verlässlich Zahlungsströme sind und wie robust ein Investment gegenüber Marktveränderungen bleibt.
1. Warum volle Gebäude nicht automatisch stabile Erträge bedeuten
Die Physical Occupancy gibt an, wie viele Einheiten eines Objekts bewohnt sind. Sie ist leicht zu messen, leicht zu kommunizieren – und steht gern im Mittelpunkt von Exposés und Finanzierungsunterlagen. „Nahezu voll vermietet“ klingt beruhigend, ist aber nur die halbe Wahrheit.
Denn entscheidend ist, wie viel der theoretisch möglichen Mieteinnahmen tatsächlich vereinnahmt wird. Diese zweite Kennzahl, die Economic Occupancy, ist der eigentliche Kompass für die wirtschaftliche Gesundheit eines Objekts.
Die Formel ist einfach – ihre Folgen sind es nicht:
Economic Occupancy = tatsächliche Einnahmen ÷ mögliche Einnahmen bei Vollbelegung zu Marktmiete
Sinkt die Economic Occupancy, verliert das Objekt an Substanz. Verluste entstehen durch Rabatte, Stundungen, Leerstände oder Forderungsausfälle.
Ein Beispiel verdeutlicht die Dimension: Ein Haus mit 100 Einheiten, Marktmiete 1 000 USD pro Einheit ergibt theoretische Einnahmen von 100 000 USD. 95 Einheiten sind belegt, also 95 % Physical Occupancy.
Doch nach Ausfällen, Freimonaten und Rabatten bleiben nur 80 000 USD Einnahmen – Economic Occupancy = 80 %. Das Gebäude wirkt stabil, verliert aber jeden Monat 20 % Ertrag.
2. Physical vs. Economic Occupancy – die entscheidenden Stellhebel
Zwischen „vermietet“ und „bezahlt“ liegen viele kleine Differenzen, die sich zu großen Effekten summieren. Die wichtigsten Einflussgrößen sind:
- Loss-to-Lease: Verträge unter Marktmiete – meist Folge veralteter Preisstrukturen oder zu vorsichtiger Anpassungspolitik.
- Concessions: Mietfreie Monate oder Rabatte, die zwar schnelle Vermietung bringen, aber den Cashflow mindern.
- Delinquencies: Verspätete oder ausgefallene Zahlungen; in Phasen wirtschaftlicher Unsicherheit steigt ihr Anteil deutlich.
- Bad Debt: Forderungen, die nicht mehr einbringbar sind und die wirtschaftliche Stabilität nachhaltig belasten.
Analysen des Urban Land Institute (ULI) zeigen, dass selbst moderne Objekte durch diese Faktoren regelmäßig 5–10 % des potenziellen Ertrags verlieren.
Eine hohe physische Belegung signalisiert Nachfrage – eine hohe wirtschaftliche Belegung beweist Tragfähigkeit.
Banken und Investoren achten genau auf den Cashflow. Physical Occupancy mag auf den ersten Blick beruhigen, doch die Bank interessiert letztlich nur eines: Wird die Hypothek gezahlt?
- Bei hoher Physical, aber niedriger Economic Occupancy sieht ein Objekt gut aus, bringt aber kein Geld.
- Bei niedriger Physical, aber stabiler Economic Occupancy (z. B. durch hochwertige, zahlungskräftige Mieter) kann ein Objekt gesünder sein, als es aussieht.
Besonders kritisch wird es, wenn Mieter „das System ausnutzen“: Zahlt jemand mehrere Monate nicht, bleiben Sie als Eigentümer auf Kosten für Instandhaltung, Betrieb und Kredite sitzen. Das kann sehr schnell teurer werden, als wenn die Wohnung leer stünde.
3. Wo Ertrag verloren geht – und wie sich Economic Occupancy steuern lässt
In der Praxis entscheidet die Qualität des Managements darüber, ob aus Belegung auch verlässlicher Cashflow entsteht. Zwischen Marktmiete und tatsächlichem Zahlungseingang liegen mehrere Stellhebel, die man kennen und kontrollieren muss.
| Faktor | Wirkung auf den Cashflow | Professionelle Steuerung |
|---|---|---|
| Concessions (Rabatte, Freimonate) | Beschleunigen Leasing, senken Erlöse | Gezielte, befristete Einsätze, regelmäßige Marktüberprüfung |
| Delinquencies & Bad Debt | Direkter Zahlungsausfall | Bonitätsprüfung, Kautionen, klare Inkassoprozesse, proaktive Kommunikation |
| Loss-to-Lease | Altverträge unter Marktmiete | Regelmäßige Anpassungen bei Auslaufen der Mietverträge |
| Turnover-Leerstand | Tage ohne Einnahmen zwischen Mietern | Standardisierte Make-Ready-Prozesse, Pre-Leasing, Service-Level-Abkommen |
Wie Studien des Institute of Real Estate Management (IREM) und der National Apartment Association (NAA) zeigen, ist eine dauerhaft stabile Economic Occupancy über 90 % kein Zufall, sondern Ergebnis von Prozessqualität und diszipliniertem Asset-Management.
4. Warum Economic Occupancy den Wert bestimmt
Im professionellen Anlagegeschäft wird nicht das „vollste“, sondern das tragfähigste Haus bewertet. Jeder Prozentpunkt Economic Occupancy übersetzt sich direkt in Cashflow – und damit in Wert.
Fehlen drei Prozentpunkte Economic Occupancy, reduziert sich bei einer Cap-Rate von 5 % der Objektwert um rund sechs Prozent. Stabilität im Cashflow ist daher kein Detail, sondern Kapitalerhalt.
Wie das Urban Land Institute und der National Multifamily Housing Council (NMHC) zeigen, korrelieren Economic Occupancy und Portfolio-Performance klar: Wer Einnahmen stabilisiert, sichert Werte.
5. Transparenz durch Reporting – Steuerung statt Gefühl
Professionelles Reporting stellt Physical und Economic Occupancy immer nebeneinander dar. Nicht als Momentaufnahme, sondern im Verlauf – ergänzt um die Ertragsbrücke vom Vertrag bis zum Geldeingang.
Ertragsbrücke: Gross Potential Rent → Concessions → Loss-to-Lease → Vacancy → Delinquencies → Bad Debt = Collected Rent.
Frühindikatoren: Zahlungsquote bis Tag 5, Aging Report, Make-Ready-Dauer, Anteil neu verhandelter Verträge.
Benchmark: Laut IREM gilt eine Economic Occupancy von ≥ 90 % als solide Schwelle.
Diese Kennzahlen sind kein Selbstzweck – sie machen sichtbar, wo Ertrag entsteht und wo er verloren geht. So wird aus Verwaltung Steuerung.
6. Was die Economic Occupancy für Investoren bedeutet
Für institutionelle und erfahrene Investoren ist Economic Occupancy weit mehr als eine Kennzahl – sie ist der Prüfstein jeder Ertragsprognose.
- Im Ankauf zeigt sie, ob Businesspläne realistisch sind.
- Im Bestand misst sie, wie effizient Management und Markt zusammenspielen.
- Im Exit bestimmt sie den Multiplikator – Käufer rechnen Cashflow, nicht Kulisse.
Wer nur die physische Belegung bewertet, investiert in Stimmung. Wer die wirtschaftliche Belegung prüft, investiert in Substanz.
Wie der National Multifamily Housing Council betont, hängt der langfristige Erfolg eines Portfolios weniger von seiner Größe als von der Stabilität seiner Einnahmen ab.
7. Der Blick hinter die Zahlen
Economic Occupancy ist im Kern ein Maß für Disziplin. Sie zeigt, wie konsequent Einnahmen gesichert, Prozesse gesteuert und Risiken früh erkannt werden. In Märkten mit Unsicherheit entscheidet diese Disziplin über die Widerstandsfähigkeit eines Investments.
Wer verstehen will, ob eine Immobilie trägt, muss hinter die Fassade schauen – auf Vertragsstrukturen, Zahlungshistorien, Anpassungsgeschwindigkeit und das Verhalten der Mieter. Das ist kein abstraktes Controlling, sondern angewandtes Risikomanagement.
Eine hohe physische Belegung beruhigt – aber sie ersetzt keine Bonität.
8. Fazit
Physical Occupancy zeigt, wer in den Wohnungen lebt.
Economic Occupancy zeigt, wer die Rechnungen zahlt.
Zwischen beiden liegt der Unterschied zwischen Eindruck und Ertrag.
Für Investoren bedeutet das: Nicht die Zahl der Mieter entscheidet über Stabilität, sondern die Verlässlichkeit ihrer Zahlungen.
Ein volles Haus kann trügen – ein zahlendes Haus trägt.
Darum richtet Whitestone jede Analyse auf die Kennzahl, die Substanz beweist: die Economic Occupancy.